Bildquelle: Pixabay. Viktor Orbán, Ministerpräsident von Ungarn, auf einem Plakat.
Demokratie in der EU: Ist der Zerfall des Rechtsstaates noch zu stoppen?
Europäische Union: Der Streit um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie tritt in eine entscheidende Phase ein. Mit dem Einfrieren von EU-Geldern für die „illiberalen Demokratien“ Polen und Ungarn hat sich die Dynamik verändert. Wie geht es jetzt weiter?
Im Jahr 1989 veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama einen aufsehenerregenden Artikel. Darin stellte er die kühne These auf, dass sich nach dem Ende des kalten Krieges die liberale Demokratie auf der ganzen Welt durchsetzen würde. Alle anderen Regierungsformen seien bloß Überbleibsel oder Übergangsformen auf dem Weg in eine neue Weltordnung. Dieses „Ende der Geschichte“ im Sinne einer finalen, alle politischen Widersprüche auflösenden Synthese blieb jedoch aus. Damals schien die Idee jedoch fast prophetisch. Schließlich wurde der Artikel nur sechs Monate vor dem Fall der Mauer veröffentlicht.
Mit dem Niedergang des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990er Jahren schien sich Fukuyamas These sogar empirisch zu bestätigen. In der Politikwissenschaft spricht man von einem „democratic breakthrough“, dem demokratischen Durchbruch, der sich in dieser Zeit ereignete. Erstmals in der Geschichte der Menschheit ist die Zahl der Demokratien auf der Welt höher als die Zahl der Autokratien. Sicherlich sollte man zwischen liberalen und dysfunktionalen Demokratien unterscheiden. Aber dennoch: Es schien sich ein Übergang in Richtung liberaler Demokratie zu vollziehen. Doch schon 1989 war es angesichts der autoritären Regime im Iran oder in China voreilig von einem endgültigen Sieg der Systeme auszugehen. Von einem „Ende der Geschichte“ ganz zu schweigen. Das hatten vor Fukuyama bereits andere Denker ausrufen wollen. Sie irrten sich. So auch dieses Mal.
Stattdessen zerfällt die Welt erneut in Machtblöcke. Die heutigen Machtzentren sind die Vereinigten Staaten, Europa, China, Russland und Indien. In dieser multipolaren Welt gibt es nicht nur Staaten, die man als lupenreine Demokratien bezeichnen kann. Statt dass sich der „democratic breakthrough“ fortsetzt, ist heute ebenso sehr von einem „democratic breakdown“ die Rede. Nicht nur sind zahlreiche Staaten der Welt weit entfernt von einem liberalen Rechtsstaat, bestehende Demokratien bröckeln zusehends von Innen. Und da muss man nicht in den Nahen Osten, nicht nach China und auch nicht nach Indien gucken. Es reicht schon, den Blick auf den europäischen Kontinent, ja sogar auf die EU selbst zu richten. Nationalismus und Rechtspopulismus greifen in der europäischen Union bereits seit geraumer Zeit um sich. In Polen, Ungarn oder Italien haben es die Populisten schon längst in die Regierungen geschafft. Die liberale Demokratie, die für Fukuyama das Ende der Geschichte ausmachte, wird in einigen Staaten zurückgebaut. Längst ist die Rede von „illiberalen Demokratien“ (Viktor Orbán, Ministerpräsident Ungarns).
Wie mitten in Europa der Autoritarismus erstarkt
Seitdem Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei im Jahr 2012 an die Macht kamen, haben sie Schritt für Schritt die Medienlandschaft und Justiz unter ihre Kontrolle gebracht. Der staatliche Rundfunk des Landes wurde in einer Holding zentralisiert, die regionale Presse ist nahezu vollständig in Besitz Regierungsnaher Unternehmer. 2018 wurden hunderte regierungsnahe Medien zusammengefasst, um ihre Berichterstattung zentral koordinieren zu können. Einige überregionale Zeitungen wurden eingestellt. Regierungskritische Artikel finden in Ungarn kaum noch Verbreitung. Wie der Spiegel berichtet, hatte das ungarische Justizministerium 2021 hunderte Journalisten mittels der umstrittenen Spionage-Software „Pegaus“ ausspähen lassen. Unbemerkt kann die Software auf Daten von Smartphones oder Computern zugreifen, Tonaufnahmen machen oder den Standort des Nutzers bestimmen. Außerdem sei die Software in der Lage, die Geräte eigenständig ein oder auszuschalten. Die Vereinigten Staaten sollen den israelischen Entwickler NSO Group auf eine schwarze Liste gesetzt haben. Das US-Handelsministerium argumentierte, dass die Spionagesoftware es zahlreichen autoritären Regimen weltweit ermöglicht habe, im Ausland lebende Regierungskritiker und Journalisten ins Visier zu nehmen, so der Spiegel.
Neben den Medien ist das Justizsystem ein weiterer wichtiger Faktor für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Doch in Orbans illiberaler Demokratie ist keine eigenständige Judikative vorgesehen. Die Fidesz-Partei hat mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament die Kontrolle über die Ernennung der Verfassungsrichter erlangt. Sollte doch mal eines ihrer Gesetze durch das Verfassungsgericht gestoppt werden, kann die Partei das Gesetz einfach in den Verfassungsrang heben. So kann keines der Gesetze von einem Gericht gestoppt werden.
Ungeachtet internationaler Kritik sind auch in Polen immer wieder Schritte hin zu einem Unrechtsstaat unternommen worden. In der ersten Legislaturperiode der PiS-Partei beschloss die Regierung das so genannte „Durchleuchtungsgesetz“. Es hätte den Behörden ermöglicht, Beamte, Politiker oder Journalisten zu überprüfen. Dabei ging es angeblich um frühere Kontakte zur kommunistischen Staatssicherheit. Das vom Verfassungsgericht einkassierte Gesetz sah vor, dass Betroffene, die sich weigerten, die nötigen Angaben zu machen, entlassen werden konnten. Als die PiS-Partei mit einer alleinigen Mehrheit in das Parlament einzog, erklärte der Vorsitzende Kaczynski, dass Entscheidungen des Verfassungsgerichtes für ihn nicht bindend seien. Eine Justizreform sah unter anderem vor, dass es Verfassungsrichtern nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit möglich wäre, Beschlüsse zu fällen. Das sorgte für einen Aufschrei unter Vertretern der EU, die darin einen weiteren Schritt in Richtung eines Unrechtsstaates erkannten. Auch den Vorrang des europäischen vor dem nationalen Recht will die PiS-Regierung nicht anerkennen. Besonders gilt das für Anordnungen des europäischen Gerichtshofes zur Justiz Polens.
Polens Regierung nimmt immer wieder auch die Pressefreiheit ins Visier. Mit einem Mediengesetz hatte die PiS-Partei im Jahr 2015 eine Regelung verabschiedet, mit dem sie den Rundfunkrat der öffentlichen Presse ausschalten konnte. Außerdem schuf das Gesetz die Möglichkeit, wichtige Posten in staatlichen Sendern mit Partei-nahen Leuten zu besetzen. Wie der Spiegel berichtet, übernahm 2020 der staatliche Ölkonzern Orlen einen beträchtlichen Anteil der polnischen Medien und Zeitungen. Neben den staatlichen Sende- und Funkanstalten habe Polen damit auch versucht, sich der privat organsierten Presse zu bemächtigen. Das sei auch als „Orbanisierung“ der polnischen Medienlandschaft bezeichnet worden.
Illiberale Demokratien: Die EU versucht die Entwicklung aufzuhalten
Der europäischen Union ist dieser Vormarsch der rechtspopulistischen Autokraten schon lange ein Dorn im Auge. Polen und Ungarn verstanden es allerdings immer gut, sich hinter den Verfahren der EU zu verstecken. Eine Möglichkeit der Sanktionierung beziehungsweise gar eines Rauswurfs aus der Reihe tanzender Staaten war in keinem der europäischen Verträge berücksichtigt worden. Niemand wollte sehen, dass das „Ende der Geschichte“ eine allzu bequeme Illusion gewesen war. Doch im Schatten der EU-Bürokratie konnten sich die Feinde des Rechtsstaates in Sicherheit wiegen – bis jetzt.
Um der Entwicklung entgegenzutreten, hat die EU hat Ende des Jahres 2022 ernst gemacht und zahlreiche Gelder an die beiden europäischen Halbautokratien eingefroren. Ob das allein die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in Europa umkehren kann, ist unwahrscheinlich. Ein wichtiger Schritt bleibt es aber trotzdem. Doch wie will die Union dieses Projekt angehen?
Eingefrorene EU-Mittel: Um wie viel Geld geht es?
Bei den eingefrorenen EU-Mitteln handelt es sich tatsächlich nicht um Kleingeld. Bei einem Pressegespräch mit Abgeordneten des Europaparlaments am 30. Januar 2023 sprach manch einer sogar von einem „Gamechanger“, wenn es um die Frage der Rechtsstaatlichkeit in Europa geht (Moritz Körner, FDP). Polen und Ungarn gehören zu den größten Nehmer-Ländern der EU. Sie sind daher auf Zahlungen aus dem EU-Haushalt besonders angewiesen. Insgesamt, so Daniel Freund von den Grünen, lägen aktuell 138 Milliarden Euro für Polen und Ungarn auf Eis. In Bezug auf Ungarn seien das 68 Prozent der Mittel, die dem Land eigentlich zustünden. Bei Polen seien das sogar 75 Prozent.
„Das ist ein Riesenerfolg für das europäische Parlament“, so Freund beim Pressegespräch. Besonders betonte er, dass die Mittel nicht „bloß“ über den Rechtsstaatsmechanismus gesperrt wären, sondern auch über die Haushaltsregelungen der EU. Das mache es möglich, Mittel aus dem Kohäsionsfond zu sperren. Das ist ein Geldtopf, der es strukturschwachen Regionen in Europa möglich machen soll, zu den anderen Ländern der Union aufzuholen. Für Ungarn wurden daraus 22 Milliarden Euro eingefroren. Bei Polen sind es sogar Mittel in Höhe von 75 Milliarden Euro. Zusätzlich seien 5,8 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufond und 6,3 Milliarden Euro über den 2014 eingeführten Rechtsstaatsmechanismus eingefroren worden.
Die Besonderheit: Laut Freund habe sich das Prinzip jetzt umgedreht. Statt dass die EU-Institutionen beweisen müssen, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Ländern gefährdet sind, haben jetzt Polen und Ungarn eine Bringschuld. Sie müssen über die Erfüllung so genannter Meilensteine zeigen, dass sie wirksame Reformen auf den Weg bringen. Monika Holhmeier (CSU) zog folgende Bilanz der Maßnahmen: „Der Mechanismus zum Schutz des EU-Haushalts zeigt seine Wirkung und das Einfrieren von Mitteln für Ungarn macht Herrn Orban zurecht sehr nervös. Wenn Fördergelder in Höhe von 3% des nationalen BIP wegfallen, kann man das nicht einfach mal so wegstecken.“
Wie geht es jetzt weiter?
Mit dem Einfrieren der EU-Gelder ist ein wichtiger Schritt getan. Jetzt muss aus den EU-Institutionen und den anderen Staaten der Union der nötige Druck kommen, damit die Meilensteine auch umgesetzt werden. Unklar sei allerdings, was unter „Meilensteinen“ beziehungsweise „Super-Meilensteinen“ der EU-Kommission überhaupt zu verstehen ist, so Monika Hohlmeier. Die Meilensteine sollen sich auf umfangreiche Gesetze bezüglich der Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit beziehen. Wie Hohlmeier kritisiert, sei aber nicht deutlich geworden, was ein Meilenstein eigentlich konkret wert sei. Es gäbe bei der EU-Kommission keine einheitliche und formale Methodik, um ihre Erfüllung zu prüfen. Die Anwendung solcher Meilensteine sei reine Verhandlungssache zwischen den Institutionen und den betroffenen Ländern. Ein geregeltes Standardverfahren sei noch nicht entwickelt.
Dass die Sperrungen der Gelder als Strategie erfolgreich bleiben, setzt voraus, dass innerhalb der EU auch ein politisches Interesse besteht, Polen und Ungarn in Richtung liberaler Demokratie zu treiben. „Die EU muss weiterhin konsequent bleiben, denn sonst haben wir so gut wie keine Mittel mehr in der Hand, um Herrn Orban zurück zu den EU-Werten zu führen“, so Hohlmeier mit Blick auf die EU-Kommission. Sollte sich die politische Großwetterlage verändern, könnte auch der Hebel über die europäische Haushaltspolitik verloren gehen. Wenn die EU-Kommission lapidare Reformen als Meilensteine akzeptiert und Gelder wieder freigibt, wäre das fatal. Die Rechtspopulisten dieses Kontinents wüssten, dass sie nur den längeren Atem haben müssen.
Gänzlich unbeantwortet ist noch ein anderes Problem: Das Einstimmigkeitsprinzip innerhalb der EU. In zentralen Fragen, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, müssen alle 27 Mitgliedsstaaten gemeinsam sprechen. Das verleiht Polen und Ungarn wie jedem EU-Mitglied ein machtvolles Vetorecht. So hatte Ungarn Anfang Dezember 2022 die Ukraine-Hilfen der EU sowie eine Mindeststeuer für Unternehmen blockiert. Erfolg hatte Ungarn damit allerdings nicht. Subventionen in Milliardenhöhe blieben gestrichen, Orbán musste seine Blockadehaltung aufgeben.
So effektiv ein Veto auch ist, so riskant kann es auch sein. Der politische Preis für ständige Blockaden ist hoch. Die Achse Budapest-Warschau ist seitdem Ukraine-Krieg in sich zusammengefallen. Das Autokraten-Paar ist sich nicht einig. Polen orientiert sich trotz antideutscher Rhetorik wieder stärker an den europäischen Partnern, während Ungarn sich deutlich in Richtung Russland bewegt. Auch die protofaschistische Regierung Italiens ist seit der Machtübernahme auffällig still. Die Regierungschefin Georgia Meloni hatte im Wahlkampf noch Stimmung gegen Brüssel gemacht. Eine gewisse Nähe zu Orbán war offensichtlich. Doch die Reaktion der EU auf Ungarns Kurs lässt die italienische Regierung die Füße stillhalten.
Jetzt liegt der Ball also im Feld der Autokraten. Man wird sehen müssen, ob tatsächliche Reformen auf den Weg gebracht werden. Die EU darf nicht wieder einknicken und Reförmchen als großen Meilenstein verkaufen. Der Druck über den EU-Haushalt kommt für den polnischen Rechtsstaat vielleicht noch rechtzeitig: In diesem Jahr stehen dort Wahlen an. Die Opposition hat sogar gute Chancen auf einen Wahlerfolg. Deutlich ist aber auch, dass der Weg in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie noch weit ist. Die Einstimmigkeitsregel muss fallen, der Druck auf Ungarn und Polen darf nicht nachlassen. Wenn der antieuropäische Kurs Warschaus und Budapests ein deutlicher Misserfolg ist, bleiben Nachahmer vielleicht aus. Das könnte Europa die dringend benötigte Zeit erkaufen, um mit dem Widererstarken des Rechtspopulismus und Nationalismus fertigzuwerden.