Dominoeffekt: Gefährliche Kippelemente des Klimasystems
Schon 2026 könnte die weltweite Erwärmung über der kritischen Marke von 1,5 Grad liegen. Ab dieser Temperatur drohen Kernelemente des Klimasystems unwiederbringlich zu kippen. Dann droht ein gefährlicher Dominoeffekt.
Das Eisschild Grönlands, die Umwälzströmung im irminger Meer und der westantarktische Eisschild. Das sind drei zentrale Kipppunkte des Klimasystems. Sollte es uns nicht gelingen, die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, könnten sie kollabieren. Dann droht ein Dominoeffekt, der eine Dynamik in Gang setzt, die nicht zu stoppen wäre. Der Klimawandel würde völlig aus dem Ruder laufen.
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung beschreibt Kipppunkte als elementare Bestandteile des Klimasystems der Erde. Ab einer bestimmten Temperatur reichen bereits kleinste zusätzliche Störungen aus, um einen qualitativ völlig neuen Zustand zu erreichen. Wird der Schwellenwert übertreten, beginnt ein irreversibler Vorgang. Dann gibt es kein Zurück mehr. „Das ist wie bei einem Stift, den man mit dem Finger immer weiter über eine Tischkante hinausschiebt. Erst passiert nichts – dann fällt er“, so das Institut in einer Veröffentlichung. Sollte eines dieser Kernlemente kollabieren, abschmelzen oder verloren gehen, drohe eine Rückkoppelung mit anderen Elementen. Die Folge sei eine dominoartige Kettenreaktion. Dadurch könnte die Lage völlig aus dem Ruder laufen.
Das Pariser Klimaschutzabkommen wurde am 12. Dezember 2015 von 175 Staaten dieser Erde unterzeichnet. Sein Ziel ist es, den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf deutlich unter zwei Grad in Relation zu vorindustrieller Zeit zu begrenzen. Angestrebt ist ein Anstieg von weniger als ein Grad Celsius. Doch allen Lippenbekenntnissen der internationalem Staatengemeinschaft zum trotz rechnen UN-Wetterexperten laut Tagesschau damit, dass schon 2026 die weltweite Erwärmung erstmals über die kritische Marke von 1,5 Grad liegen könnte.
Globale Erwärmung von 1,5 bis 2 Grad: Die zeitkritischen Kipppunkte
Grönland ist das ganze Jahr über von einem bis zu drei Kilometer starken Eisschild bedeckt. Laut dem Potsdamer Institut droht bei einer Erwärmung von 1,5 Grad ein Abschmelzen dieser gigantischen Eismassen. Auf lange Sicht (ca. 10.000 Jahre) könne der Eisschild vollständig verschwinden. Die Folge sei ein Anstieg des globalen Meeresspiegels um bis zu sieben Meter. Das würde Küstenregionen unbewohnbar machen, ganze Inseln wären verloren. Gleichzeitig reflektieren Eis und Schnee die Strahlen der Sonne. Schmelzen die Eisflächen ab, erhitzt sich die Erde deutlich schneller. Hier droht auch schon der erste Dominoeffekt: Das abgeschmolzene Wasser des grönländischen Eisschildes könnte die Umwälzströmung im Labrador und Irminger-Meer kollabieren lassen — ein weiteres zentrales Element im Klimasystem.
Die Umwalzströmung ist Teil des so genannten Subpolaren Wirbels. Das ist eine windgetriebene Oberflächenströmung im Nordatlantik. Meeresströmungen, wie zum Beispiel der berühmte Golfstrom, sind für das Klima von großer Bedeutung. In Europa herrscht unter anderem wegen dieser Strömungen ein mildes Klima. Sollte die Strömung im Labrador und Irminger-Meer bei einer Erwärmung von etwa 1,8 Grad kollabieren, könne es regional zu einer Abkühlung von etwa 2-3 Grad kommen. Global geht das Institut von einer Abkühlung von 0,5 Grad Celsius aus. Die Folge sei eine Verschiebung des Jetstreams nach Norden. Der Jetstream ist ein Starkwindfeld in der oberen Troposphäre. Dadurch wäre Europa deutlich öfter von Wetterextremen betroffen.
Auch das Eisschild der Westantarktis verabschiede sich bei Temperaturen um den Schwellenwert von 1,5 Grad. Alles darüber hinaus könne zu irreversiblen Umwälzungen führen. Alleine durch das Abschmelzen dieser Eisfelder könne der globale Wasserpegel um weitere drei Meter steigen. Diese Kernelemente sind also die ersten Dominosteine, die umfallen könnten. Sollten sie verloren gehen, beschleunigt das den Klimawandel enorm. Bei 2 bis 4 Grad Erderwärmung könne es dann zu einem Kollaps weiterer zentraler Elemente kommen, so das Institut in Potsdam. Darunter der Regenwald im Amazonas, Gletscher in der Ostantarktis sowie Permafrostböden in Russland. Noch ist es möglich, das alles zu verhindern, doch die Uhr tickt.
Globale Erwärmung von 2 bis 6 Grad : „Erde wird in Teilen unbewohnbar“
Hans Joachim Schellnhuber ist einer der renommiertesten Klimaexperten der Welt. Bis 2018 leitete er das Potsdam-Institut für Klimaforschung. Doch auch nach seiner Zeit als Direktor ist der emeritierte Professor weiterhin aktiv. In einem Interview mit dem Online-Magazin Klimareporter spricht Schellnhuber über die Folgen des anthropogenen Klimawandels. Der Klimawandel werde bei einer Erderwärmung von vier, fünf oder sechs Grad völlig aus den Fugen geraten. Der Begriff Erderwärmung wäre im Falle eines Dominoeffektes, der zu einem solchen Temperaturanstieg führt, viel zu harmlos. Stattdessen spricht Schellnhuber von der sogenannten Heißzeit. Ähnlich wie bei einer Eiszeit, wäre das Leben in einigen Regionen der Erde vollkommen unmöglich.
Der antarktische Eisschild sei wahrscheinlich schon stückweise gekippt. Selbst bei sofortiger Anpassung läge der Meeresspiegel 2300 ca. zwei bis drei Meter höher als heute. Er geht davon aus, dass wir uns Stück für Stück aus den Küstenregionen zurückziehen müssen. Um die Erderwärmung auf verkraftbare 2 Grad zu beschränken, habe die Weltgemeinschaft in etwa 30 Jahre. Laut Schellnhubers Schätzungen bräuchte es alleine schon ca. 20 Jahre, um die Wirtschaft zu dekarbonisieren. Zehn Jahre blieben der Menschheit also übrig, um die Dominoeffekte zu verhindern. Doch auch bei einer Erderwärmung von 1,5 Grad wird sich das Leben auf der Erde grundlegend verändern.
IPCC: Was bei 1,5-2,0 Grad auf die Menschheit zukommt
Das intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) hat 2022 einen Bericht über die Folgen einer globalen Erwärmung von 1,5 bis 2 Grad veröffentlicht. Die Hitzewellen werden künftig auf der ganzen Welt häufiger und länger auftreten. Das erhöht die Dürregefahr in einigen Teilen der Welt enorm. Besonders der Mittelmeerraum werde stark betroffen sein. Der Wassermangel werde zu Problemen bei der Wasserversorgung und Landwirtschaft führen. Waldbrände, Missernten und knappes Wasser sind in Deutschland schon bei der bisherigen Erwärmung von etwa 1,1 Grad häufiger zu beobachten. In einigen Regionen, vor allem in Kanada, Nordeuropa und Nordasien, wird sich die Intensität und Häufigkeit von Starkregen erhöhen. Zusammen mit dem Anstieg des Meeresspiegels um etwa 30-80 cm führt das zu erhöhter Hochwassergefahr.
Ärmere Regionen des Planeten werden von den Auswirkungen deutlich stärker betroffen sein. In der Sahelzone, in Südostasien sowie im Nahen Osten könne es verstärkt zu Hungersnöten und mangelnder Trinkwasserversorgung kommen. Auch die wirtschaftliche Entwicklung der Länder gerät dadurch ins Hintertreffen. Armut könnte sich verschlimmern. Die daraus entstehenden Verwerfungen und Konflikte könnten zu größeren Fluchtbewegungen führen.
Einige Tierarten werden wegen der höheren Temperaturen nach Norden wandern. Das bringt Probleme mit sich. Zum einen können invasive Arten lokale Ökosysteme aus dem Gleichgewicht bringen. Zum anderen werden sich Krankheiten wie Malaria oder das Dengue-Fieber ausbreiten. Die Krankheiten werden unter anderem durch lebende Organismen verbreitet. Beispielsweise wird in Nordeuropa immer wieder die asiatische Tigermücke gesichtet. Sie kann eine große Zahl an Krankheiten von Mensch zu Mensch übertragen.
Auch die Ozeane sind durch den Klimawandel betroffen. Durch die Aufnahme von ca. 30% des menschengemachten Kohlendioxids wird die Versauerung der Meere fortschreiten. Bei sauererem Meereswasser lösen sich die Kalkskelette von Kleinstlebewesen, Korallen und Muscheln auf. Sie stehen in vielen Ökosystem am Anfang der Nahrungsketten. Daher fürchten die Autoren des IPCC-Berichts, dass es zu ökologische Totzonen in den Meeren kommen könnte. 70-90% der Korallenriffe werden bei einer Erwärmung von 1,5 Grad verloren gehen. Auch Mangroven und Tangwälder sind bedroht.
Klimafolgen: Deutschland muss sich vorbereiten
Obwohl die Ampel-Regierung sich darauf verständigt hat, bis 2045 klimaneutral zu sein, besteht dringend Nachholbedarf. Alle Ressorts der Bundesregierung sollen in ihrem Bereich genügend Emissionen einsparen. Doch nicht alle Ministerien machen mit. Bei Volker Wissing (FDP) im Verkehrsministerium sind keinerlei Pläne erkennbar, wie die nötigen Emissionen eingespart werden sollen. Auch die EU hat gesetzlich festgelegt, dass die europäische Staatengemeinschaft bis 2050 klimaneutral sein soll.
Doch die Politik sollte sich nicht nur darum bemühen, den Klimawandel möglichst zu begrenzen. Es ist mindestens genau so wichtig, sich auf die Klimafolgen vorzubereiten, die auf uns zu kommen und teilweise schon längst da sind. Laut RKI sind alleine 2022 4.500 Menschen am Hitzetot gestorben. Mehr Hitzewellen werden zu mehr Toten, weniger Wasser, mehr Waldbränden und häufigeren Missernten führen. Die Flut im Ahrtal wird wahrscheinlich nicht einmalig bleiben. Es fehlt an ernsthaften Vorbereitungen auf die Herausforderung.
Es wäre an der Zeit, die Betonwüsten der Städte aufzubrechen und stärker zu begrünen. Begrünungen führen zu einem deutlichen Rückgang der Temperaturen im Sommer. Wohnheime und Krankenhäuser müssen mit Klimaanlagen ausgestattet werden, um hitzebedingte Tode vorzubeugen. Funktionierende Infrastruktur muss sicherstellen, dass wir schnell auf Dürresituationen und fehlendes Wasser reagieren können. Im Falle eines Hochwassers müssen Küstenorte durch Deiche geschützt werden.
Der Katastrophenschutz in Deutschland braucht mehr Löschflugzeuge und -helikopter, um Waldbränden zu begegnen. Wälder müssen aufgeforstet und für die Klimabedingungen der Zukunft fit gemacht werden. Die Liste kann man ewig weiterführen. Wir sollten uns lieber jetzt Gedanken darüber machen, wie wir uns anpassen. Ansonsten wird der Anpassungsdruck uns zum Handeln zwingen — dann aber völlig planlos.