Jünger, wilder, linker: Machen junge Abgeordnete SPD und Grüne radikaler?

Seit der Bundestagswahl von 2021 ist das deutsche Parlament so jung wie nie. Besonders SPD und Grüne haben in dieser Legislaturperiode viele Nachwuchs-Politiker in ihren Reihen. Manch einer dachte, dass würde die Fraktionen im Bundestag radikaler und linker machen. Hat sich das bewahrheitet?

Am 26. September 2021 wurde der 20. Deutsche Bundestag gewählt, am 26. Oktober fand seine erste konstituierende Sitzung statt. Eine auffällige Neuerung war der Einzug besonders junger Parlamentarier in das Reichstagsgebäude. Viele der frisch eingezogenen Nachwuchspolitiker kommen aus den Reihen der SPD. Doch auch bei den Grünen hat man sich weiter verjüngt. Insgesamt zogen 49 Jungsozialistinnen und Jungsozialsten in den damals noch neuen Bundestag ein. Darunter der ehemalige Bundesvorsitzender Kevin Kühnert. Von den jungen Grünen schafften es 27 nach Berlin.

Einige politischen Beobachter gingen davon aus, dass die Parteien dadurch nicht nur jünger und wilder, sondern auch deutlich linker würden. Nicht wenige befürchteten gar einen kräftigen Linksruck. So setzte beispielsweise Robin Alexander, stellvertretender Chefredakteur der WELT, einen Tag nach der Bundestagswahl einen entsprechenden Tweet ab. Alleine die 49 Jusos im Bundestag könnten im Zweifelsfall die Regierungsfähigkeit lahmlegen. Alexander sah besonders bei Kevin Kühnert, seit 2021 Generalsekretär der SPD, ein Machtzentrum der jungen SPDler. Ohne ihn laufe in Deutschland künftig gar nichts mehr.

Jetzt, über ein Jahr später, können wir überprüfen, ob die jungen Abgeordneten die alten Hasen ihrer Fraktion vor sich her getrieben oder sich vielmehr nahtlos in die eingespielten Abläufe des Politikbetriebs der Bundesrepublik eingefügt haben.

Die Sperrminorität der Juso-Abgeordneten hätte das Potential, der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP ordentlich Kopfzerbrechen zu bereiten. Zu mal bekannt ist, dass Kevin Kühnert nicht gerade der größte Fan von Olaf Scholz ist.

In seiner Zeit als Bundesvorsitzender der Jusos gehörte er zu einem der linken Flügel der Jugendorganisation, dem Netzwerk linkes Zentrum (NwLZ). Mit seiner #NoGroko Kampagne wendete er sich offen gegen die Koalitionspläne von Scholz. Als 2019 die Wahl zum Vorsitz der SPD anstand, lehnte er den Vizekanzler ab und unterstützte stattdessen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Trotz Kühnerts Unterstützung im Bundestagswahlkampf sind die beiden sicherlich nie miteinander warm geworden. Kein Wunder also, dass Robin Alexander bei Kühnert ein Machtzentrum sah.

Ungleichheit in Deutschland: Vermögensabgabe für Millionäre und Milliardäre

„Unsere Zeit ist geprägt von multiplen Krisen. Wir erleben neue und andere Herausforderungen, als wir uns vor einem Jahr noch vorgestellt hätten. (…) Deswegen ist jetzt die Zeit für eine einmalige Vermögensabgabe.“ So zitierte das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) Emilia Fester im Oktober 2022. Nur einen Monat später stimmt sie, wie auch der Rest der Grünen Fraktion geschlossen gegen einen entsprechenden Antrag der Linkspartei. Die Linke fordert eine einmalige Vermögensabgabe für Millionäre und Milliardäre zur Finanzierung der Krisenbewältigung. Auch fester spricht dazu im Bundestag. Eine starke Schulter könne mehr tragen, wer mehr hat, der kann und sollte auch mehr geben. „Dafür stehen wir Grüne ein“, so die Abgeordnete. An diesem Tag offenbar nicht. In ihren Augen habe die Ampel-Koalition aber bewiesen, das parteipolitische Klein-klein hinter sich lassen zu können. Man könne produktiv miteinander arbeiten. Gleichzeitig sei aber auch klar, dass das Problem der Vermögensungleichheit gemeinsam mit den Koalitionspartnern gelöst werden müsse. Gemeint ist selbstverständlich die Partei, welche die beiden anderen Koalitionäre seit Beginn der Legislatur mit Blockadehaltungen und Opposition aus dem Inneren vor sich her treibt – die FDP. Das Klein-klein der Parteienpolitik scheint also munter weiterzugehen. Dringende Reformen bleiben auf der Strecke.

Umverteilung, eigentlich ein Markenkern der Sozialdemokratie, sollte doch bei den Juso-Abgeordneten auf breite Zustimmung stoßen. Immerhin hatte man im Wahlkampf noch darauf gehofft, mit Rot-Rot-Grün progressive Sozialpolitik durchsetzen zu können. Doch auch die SPD stimmt geschlossen gegen den Antrag. Auch der junge Abgeordnete Tim Klüsendorf, seit 2021 für den Wahlkreis Lübeck im Bundestag, hält das Anliegen des Antrages für „eigentlich unterstützenswert.“ In seiner Rede zum Antrag spricht er darüber, wie dramatisch die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland auseinanderklafft. Deutschland habe sogar die dritthöchste Ungleichheit im Vergleich zu anderen OECD-Staaten.

Es sehe, so Klüsendorf, vielleicht etwas komisch aus, dass seine Partei inhaltlichen Forderungen nicht zustimmt, die sie eigentlich gut fänden. Man müsse politische Realitäten aber auch anerkennen, sagt er. In der Regierungskoalition habe man sich geeinigt, solche Projekte nicht anzugehen. Stattdessen habe die FDP dem Bürgergeld, dem Mindestlohn und der Wohngeldreform zugestimmt. Im Gegenzug müsse man bei der Vermögensungleichheit Verzicht üben. Eine aufrührerische Blockadehaltung ist darin nur schwer zu erkennen. Es scheint, als folge man den Spielregeln. Bleibt noch die Frage, ob die FDP nicht auch als bequeme Ausrede herhalten kann. In einigen Teilen der SPD ist man von der Forderung einer Vermögensabgabe für Millionäre und Milliardäre sicherlich genau so weit weg, wie bei FDP und Union. Die eigene Untätigkeit lässt sich bequemer mit einem Buhmann außerhalb der eigenen Partei erklären.

Katharina Beck, Sprecherin Bundesarbeitsgemeinschaft für Wirtschaft und Finanzen bei den Grünen, betont die „ganz persönlichen Schicksale“ hinter den abstrakten Zahlen der Vermögensungleichheit. Dank der Linkspartei beschäftige sich der Bundestag mit diesem wichtigen Thema. Ungleichheit sei ein wichtiger Grund für das sinkende Vertrauen in unser System. Dennoch wird kein einziger grüner Abgeordneter dem Antrag zustimmen. Auch hier darf der Verweis auf den Koalitionspartner nicht fehlen. Sie glaube, es müsse hier in der Koalition mehr diskutiert werden. Sich in den Debatten für etwas zu positionieren, gegen das man anschließend abstimmt, dürfte bei den abgeschlagenen dieser Gesellschaft allerdings auch nicht für mehr Vertrauen in unser System sorgen.

100 Milliarden für die Verteidigung: Das Sondervermögen Bundeswehr

Das Sondervermögen der Bundeswehr war wohl einer der wichtigsten Entscheidungen der bisherigen Legislaturperiode. Auf die vom Kanzler angekündigte Zeitenwende sollten Taten folgen. Das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr stellte eine bis dato nie da gewesene einmalige Investition in die Verteidigung des Landes dar. Zusätzlich sollen künftig 2% des BIP in die Verteidigung fließen. Besonders bei den Linken Flügeln von SPD und Grünen rumorte es kräftig. Der Widerstand formierte sich in der linken SPD-Gruppe „Forum Demokratische Linke“ (DL21), so das RND. Die Bundeswehr sei in ihren Augen nicht unterfinanziert, sondern geplagt von strukturellen Problemen. Daher brauche es dringend eine Reform bei der Truppe. Deutschland könne es sich nicht leisten, die für die Bekämpfung des Klimawandels dringend benötigten Ressourcen in Aufrüstung zu stecken. Sowohl Kühnert als auch die Parteivorsitzende Saskia Esken gingen trotz der Kritik davon aus, dass die gesamte SPD-Fraktion das Sondervermögen unterstützen werde.

Von den SPD-Abgeordneten im Bundestag gab es neun Gegenstimmen. Alle neun Stimmen kommen von den Juso-Abgeordneten. Auch Jessica Rosenthal, aktuelle Bundesvorsitzende der Jusos, erteilte dem Sondervermögen eine deutliche Absage. Der Weg des Sondervermögens fokussiere sich einseitig auf de Bundeswehr und lasse andere sicherheitsrelevante Politikfelder außer Acht. Ihr Nein zum Sondervermögen sei also kein grundsätzliches Nein zu höheren Verteidigungsausgaben. Vielmehr gehe es ihr darum, dass die Schuldenbremse allein für die Bundeswehr umgangen werde. Sie sieht in der Schuldenbremse allerdings eine grundsätzliche Limitierung demokratischen Handelns. Von den übrigen 40 jungen Abgeordneten der SPD kommt kein Widerstand.

Bei den Grünen sorgte die Ankündigung von Scholz ebenfalls für Ärger. Wie die SZ schreibt, sei weder die Partei- noch die Fraktionsspitze rechtzeitig über das Sondervermögen informiert worden. Sogar die Grünen Regierungsmitglieder hätten keine Details gekannt. Die Partei unternahm den Versuch, das Sondervermögen zu entschärfen. Der Topf solle nicht nur für militärische Zwecke genutzt werden. Auch für Energiesicherheit, humanitäre Hilfe, Zivilschutz und Cybersicherheit, so stellte man sich offenbar vor, sollte das Sondervermögen herhalten. Dieser „breite“ Sicherheitsbegriff sei jedoch am Widerstand der CDU/CSU gescheitert. Trotz der Bauchschmerzen, die man mit dem Sondervermögen hatte, stimmte ein Großteil der Grünen zu. Besonders jetzt müsse Verantwortung getragen werden. Ein Scheitern sei keine Option gewesen.

Unter den 4 Stimmen gegen das Sondervermögen findet sich keine einzige von den jungen Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen. Dabei hatten sich die jungen Grünen öffentlich gegen die 100 Milliarden für die Bundeswehr ausgesprochen. Bei Max Lucks, einer der jüngsten MdBs in Berlin, war von einer „bitteren Pille“ die Rede. Für ihn überwogen jedoch die Gründe dafür zu stimmen, so Lucks auf Twitter. Emilia Fester gab in einem Spiegel-Interview an, kein Fan des Sondervermögens gewesen zu sein. Im Bundestag stimmt sie dennoch für. Als Parlamentarierin, so begründet sie es, sei es ihre Aufgabe, die Parlamentsarmee auch anständig auszustatten. Bei den Abwägungen der Abgeordneten dürfte es allerdings auch eine Rolle gespielt haben, dass die grüne Außenministerin Annalena Baerbock mit an dem Kompromiss zum Sondervermögen verhandelt hatte. Hätten sich die jungen Abgeordneten gemeinsam gegen das Ergebnis gestellt, hätte das für Partei und Fraktion ein schlechtes Bild abgegeben.

Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke

Die Abkehr von Atomenergie gehörte immer zu den Kernüberzeugungen der Grünen. Die Anti-Atomkraftwerk-Bewegung der 80er Jahre war für viele Grünen-Politiker prägend. Doch besonders bei der Parteibasis formierte sich Widerstand gegen die geplante Laufzeitverlängerung dreier deutscher Meiler bis zum 15. April 2023. Nach langen Debatten über Sicherheit und Notwendigkeit des Weiterbetriebs setzte Bundeskanzler Olaf Scholz der Debatte mit einem Machtwort ein jähes Ende. Mit seiner Richtlinienkompetenz setzte er die Position durch, die am 11. November 2022 das Parlament passierte. Bei den jungen Sozialdemokraten fand sich kein Widerstand gegen die Akw-Linie des Kanzlers.

Neun Abgeordnete der Grünen stimmten allerdings gegen die Gesetzesänderung. Unter ihnen fanden sich eher alteingesessene Abgeordnete, wie Jürgen Trittin. Von den jungen Abgeordneten stimmten nur Kathrin Henneberger, Karoline Otte und Julian Pahlke gegen die Verlängerung der Laufzeiten. Dem Spiegel gegenüber gab Pahlke an, seinem Gewissen folgen zu wollen. Eines der betroffenen „maroden“ Kernkraftwerke liege in seiner Region. Die Richtlinienkompetenz sei nur für Regierungsmitglieder bindend, nicht aber für Bundestagsabgeordnete.

Karrieristen oder Realisten?

Tatsächlich sind Abgeordneter des deutschen Parlaments nur ihrem Gewissen verpflichtet. Faktisch gibt es allerdings innerhalb jeder Partei im Bundestag einen Fraktionszwang. Abweichler gibt es zwar immer wieder, aber nie in kritischer Masse. Da sind auch die „jungen Wilden“ im Bundestag keine Ausnahme. In keiner namentlichen Abstimmung der bisherigen Legislatur trauten sich die Jusos oder die jungen Grünen im Bundestag gemeinsam aufzutreten. Lahmgelegt hat die befürchtete Sperrminorität der Juso-Abgeordneten auch nie etwas. Das kann gleich mehrere Gründe haben.

Zum einen will man es sich nicht direkt mit der eigenen Fraktion verscherzen. Die Freude, im Bundestag zu sitzen ist groß. Wer keinen Wahlkreis direkt gewonnen hat, der muss bei allzu häufiger Rebellion fürchten, seinen Listenplatz zu verlieren. Und man will ja noch Karriere machen. Karrieristen hat das Parlament eigentlich schon mehr als genug. Sich in seinen Reden und bei politischen Forderungen in ihrer schärfe überbieten, gleichzeitig aber gegen dieselben Forderungen stimmen, wenn sie von Oppositionellen eingebracht werden, ist Anpassung an den eingespielten Politikbetrieb in Berlin. Es gehört zur Tradition, Anträgen der Opposition grundsätzlich nicht zuzustimmen. Auch hinterher auf Social Media darüber schreiben, wie viel Bauchschmerzen man mit einigen Entscheidungen hatte, löst nicht gerade viel Verständnis aus. Am Ende des Tages sind die Abgeordneten ihrem Gewissen verpflichtet und könnten davon auch Gebrauch machen. Ob es politisch Klug oder in ihrem Interesse ist, ist eine andere Frage. Das bedeutet es eben, Verantwortung im Parlament zu tragen.

Zum anderen muss man die Mehrheitsverhältnisse im Parlament beachten. Für Rot-Rot-Grün gibt es keinerlei Mehrheiten. Eine Blockadehaltung junger Politiker hätte keinen „positiven“ Effekt in Form anderer Gesetzgebung. Auch die jungen Abgeordneten sehen, dass das Land sich in mehreren Krisen befindet. Sie tragen auch die Verantwortung dafür, dass die Regierung funktioniert. Der Entscheidungskorridor der Abgeordneten ist also sehr eng. Viel Platz für Rebellion ist da nicht. Gleichzeitig geht die Vorstellung eines Pulks von jungen Abgeordneten, die das Parlament auf links drehen von einer sportlichen Annahme aus: Es setzt voraus, dass dort alle dieselbe Meinung hätten. Doch wie das Beispiel des Abgeordneten Pahlke zeigt, gibt es eine Vielzahl anderer Faktoren, die eine Entscheidung beeinflussen können. Kritiker legen den Abgeordneten oft ihre eigene Gesinnung in den Kopf. Die sind ja jung und links, da müsse „man“ sich doch auch entsprechend verhalten. Maximalforderungen sind jedoch leichter gestellt als in einem Parlament durchgesetzt.

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